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Angst

Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten

Ich bin auf einer Wanderung und habe mich in der Zeit verschätzt, sodass ich mich noch im tiefsten Wald befinde, obwohl es bereits dämmert. Was soll ich tun? Zurück in bewohnte Gebiete schaffe ich es sicher nicht mehr, bevor die Nacht hereinbricht. Die Nacht, die besonders dunkel sein wird, da Neumond ist und ich weit von einer Stadt oder einem Dorf entfernt bin, das mir durch seine Lichtverschmutzung, zumindest etwas, die Nacht erhellte.
Ich werfe einen Blick auf mein Smartphone. Mist, ich habe nur noch 3 % Akkukapazität, da ich keinen Empfang habe und es vergaß, in den Flugzeugmodus zu schalten, damit die Suche nach einem Netz, nicht die ganze Energie des Akkus aufbraucht. Ich seufze und schalte das Smartphone in den Flugmodus, auch wenn es jetzt eigentlich nichts mehr bringt.
Resigniert zucke ich mit meinen Schultern und gehe weiter. Was wäre ein guter Platz, um die Nacht zu verbringen? Schließlich sehe ich am Wegesrand eine Schutzhütte, in die ich mich über Nacht setzen und vielleicht auch etwas dösen kann. Gedacht, getan und auch wenn die Schutzhütte bereits viele Spuren des Alters zeigt, denke ich bei mir, dass sie immer noch besser ist, als komplett in der freien Natur zu übernachten.
Schließlich bricht die Nacht herein und meine Sicht ist auf eins, zwei Meter begrenzt. Ich sitze da und lausche den Geräuschen. Dem Wind in den Bäumen und den Rufen, der nachtaktiven Vögel. Ich denke bei mir, dass sicherlich viele in dieser Situation Angst hätten und an die vielen Horrorfilme, die mit einer solchen Szene beginnen. Doch ich verspüre keine Angst.
Angst? Was ist das überhaupt? Ich überlege, wann ich das letzte Mal echte Angst verspürte und ich muss mehrere Jahrzehnte zurückgehen. Ich denke zurück und stelle fest, dass die Angst selten ein guter Ratgeber ist. Damals nicht für mich und damals wie heute für die meisten Menschen nicht.

Ich sitze in der Schutzhütte und schließe meine Augen. Ich versuche einzuschlafen, doch es gelingt mir nicht. Meine Gedanken kreisen um den Begriff der Angst. Die Angst, die evolutionär dazu diente, dass wir Menschen vor Gefahren fliehen, um dadurch unsere Leben zu retten. Sei es die Angst vor einem wilden Tier, vor einem bösen Menschen oder auch nur vor kranken Menschen, um uns so vor Verletzung und Krankheit zu schützen. Doch was bleibt heute von dieser Angst? Angst vor wilden Tieren müssen wir fast gar nicht mehr haben. Angst vor anderen Menschen in manchen Ländern schon und die Angst vor Krankheit ist bei vielen, die sie heute noch haben, eine Pseudoangst, da das Risiko, das sie sehen, meistens viel größer ist, als die tatsächliche Gefahr.
Meine Gedanken bleiben bei den Pseudoängsten hängen, den Ängsten, die viele Menschen haben, obwohl es nichts zu fürchten gibt oder sie auf einem überhöhten kulturellen und gesellschaftlichen Level Angst haben. Ängste vor gesellschaftlichen Abstieg. Ängste vor Überfremdung. Ängste vor einer ungewissen und anspruchsvollen Zukunft. Es sind Ängste, die viele Menschen anfällig machen für Manipulationen und Heilversprechen von Populisten, die sagen, dass sie alleine dafür sorgen könnten, dass alles so bleibt, wie es in der guten alten Zeit war, und es ihnen zukünftig immer besser geht.
„Alles so bleibt, wie es in der guten alten Zeit war.“ Was für ein Hirngespinst. Wir Menschen und die Gesellschaft verändert sich ständig. Wir verändern uns, sei es aufgrund von technischen Errungenschaften oder umweltbedingten Gegebenheiten, wie der Klimawandel. Wir Menschen müssen uns auch immer anpassen, möchten wir nicht offenen Auges in unseren Untergang rennen. Doch gerade Populisten, mit ihren Versprechen, sagen häufig den Menschen, dass sie nichts ändern müssen, um ihnen die Angst vor Veränderung und einer ungewissen Zukunft zu nehmen, doch gerade dadurch bleibt die Zukunft im Nebel und ihre Gefahr abstrakt. Es ist häufig die Zukunft, die drohend über allem schwebt, wobei man meistens die Chancen übersieht, die sie einem, und der Menschheit im Allgemeinen, bieten könnte.
Meine Blase drückt. Ich stehe auf, taste mich im Dunkel aus der Schutzhütte hinaus und hinter sie. Ich öffne meinen Hosenstall und schlage Wasser ab. Während ich so da stehe, denke ich, dass ich in der Vorzeit oder in anderen Ländern sicher Angst in dieser Situation hätte. Doch in Deutschland, mit den wenigen wilden Tieren, was sollte hier passieren?
Als ich meine Blase geleert habe, gehe ich zurück in die Schutzhütte, trinke einen Schluck Wasser, aus der Wasserflasche in meinem Rucksack, und esse ein Stück Knäckebrot. Dabei frage ich mich, woher nur die vielen Ängste in unserer Gesellschaft kommen. Uns geht es doch eigentlich gut und es muss eigentlich niemand hungern. Es ist zwar auch war, dass man selten zum Millionär wird, aber gut und bescheiden leben kann fast jeder. Bescheiden? Was macht denn ein gutes Leben aus? Für mich genügend Essen und Trinken, eine Wohnung und etwas zu lesen. Dabei wandern meine Gedanken zu einer Umfrage, die ich vor einigen Jahren las. Einer Umfrage, in der viele Befragte angaben, dass zu ihren Grundbedürfnissen der jährliche Urlaub im Ausland zählte. Ein jährlicher Auslandsurlaub? Wirklich? Leben wir nicht wirklich über unseren Verhältnissen und sind dadurch für Rattenfänger, die die Angst vor dem „Abstieg“ schüren und vermeintlich einfache Lösung versprechen, empfänglich? Für Rattenfänger, die uns mehrheitlich egoistische Lösungen präsentieren, in denen wir uns alleine gut fühlen, während das große Ganze den Bach heruntergeht? Es sind Versprechen, wie, dass jeder konsumieren kann, was er möchte, wobei wir ausblenden, dass wir weiter fossile Energieträger verbrennen und die Umwelt und unsere Zukunft, durch Umweltverschmutzung und Erderwärmung, den Preis zahlt. Der Preis ist schlicht und einfach die Zukunft allen Lebens auf unserer Welt.
Ich werde wütend, da viele Menschen wirklich nur ihre eigenen, egoistischen Ziele verfolgen und Angst um ihre kleine persönliche Welt haben, anstatt das große Ganze zu sehen. Doch Wut bringt rein gar nichts und so versuche ich mich zu entspannen und doch noch eine Runde zu dösen. Ich schließe meine Augen.

Eine Menschenmenge steht um mich herum, brüllt mich an, dass ich ein Feind sei. Sie brüllt, dass ich ihren Wohlstand raubte und ihre Zukunft zerstörte. Doch ich spüre keine Angst. Sie schreien, schieben und drücken mich durch die Menge. Sie leiten mich mit bösen Worten und Blicken zu einem Rednerpult, auf dem ein Mann steht, der Woche für Woche die Menschen mit einfachen, populistischen Parolen aufhetzt. Sie schieben mich auf das Rednerpult und der Redner sagt: „Hier ist ein Vertreter der grün-links versifften Eliten, die unseren Wohlstand und unsere Zukunft verspielen.“ Ich sehe über die aufgebrachte Menge und denke, dass wir Menschen verlernt haben, über das große Ganze nachzudenken und im Sinne des großen Ganzen zu handeln. Nein, stattdessen verfolgen wir häufig nur noch kurzfristige, egoistische Ziele, von denen wir uns selbst einen Nutzen versprechen, egal, wer die Kosten dafür bezahlt. Der Redner reißt mich aus meinen Gedanken, in dem er zur Menge sagt: „Lasst ihn eure Abneigung spüren.“ Worauf mir die Menge wüste Beschuldigungen und Beschimpfungen an den Kopf wirft. Anschließend wendet sich der Redner an mich und fragt: „Möchtest du dein Verhalten rechtfertigen.“ Während er mir ein Mikrofon hinhält. Ich nehme das Mikrofon und sage, ohne nachzudenken: „Es ist schön zu sehen, dass sich seit dem Dritten Reich nichts geändert hat und es immer noch populistische Rattenfänger schaffen, viele Menschen mit egoistischen, kurzsichtigen Versprechungen zu ködern. Es ist schön, dass sich eines nicht ändert, nämlich dass die meisten Menschen sich selbst am nächsten sind und die Kosten und Lasten für ihr Leben und Lebensstandard gerne anderen aufdrücken.“ Das Geschrei der Menge wird unerträglich laut und ich werde zu Boden geworfen und es wird auf mich eingeschlagen. Ich spüre Schmerzen, aber keine Angst, und so sage ich: „Eure Schläge geben mir recht.“, bevor es dunkel wird.

Szenenwechsel. Ein Hund steht knurrend vor mir. Er fletscht die Zähne, doch ich habe keine Angst. Ich strecke meine Hand aus und lasse den Hund an ihr schnuppern. Das Knurren wird leiser. Ich bleibe weiter stehen und warte. Der Hund senkt seinen Kopf und stößt mit ihm gegen meine Hand. Ich streichle ihn sanft. Ich höre eine Stimme sagen: „Das ist seltsam, normalerweise lässt er sich von keinen Fremden streicheln.“ Worauf ich sage: „Meistens spüren die Tiere die Angst von anderen und befeuern sie. Spüren sie, dass du keine Angst hast, werden sie meistens friedlich und du kannst freundlich mit ihm umgehen. Problematisch wird es erst, wenn sie im Rudel auftreten und einer zeigen möchte, dass er der Rudelführer ist oder wenn sich Mitglieder des Rudels beweisen möchten und aufgrund dessen aggressiver auftreten und reagieren, als sie eigentlich sind.“

Szenenwechsel. Ich sitze mit Freundinnen und Freunden zusammen auf einer Wiese. Wir treffen uns regelmäßig. Doch von Mal zu Mal werden es weniger. Die Freunde verschwinden aus meinem Leben und das meistens wortlos, entweder, indem sie auf Einladungen zu Treffen nicht mehr reagieren oder zu zugesagten Treffen, nicht mehr kommen und so Treffen um Treffen, häufig immer wieder, platzen lassen. Auf Nachfrage fallen, wenn überhaupt, Sätze wie: „Ich melde mich, wenn ich Zeit habe.“ wobei sie anscheinend nie Zeit habe und bei Nachfragen auch immer wieder den gleichen Satz bringen. Scheinbar hat die Freundschaft keine Priorität für sie, denn sonst würde man nicht immer vertrösten. Doch nicht nur das. Scheinbar fehlt auch der Mut, diese Erkenntnis in Worte zu fassen.
In Worte fassen. Ja, wir Menschen fassen Unangenehmes nicht gerne in Worten und führen ungern „Streitgespräche“. Wir scheuen „anstrengende“ Unterhaltungen, denn wir wollen weich gepolstert durchs Leben gehen und schließlich im Daunenbett sterben. Doch dadurch werden wir Menschen zu Geistern, zu Schatten von dem, was wir eigentlich sein könnten.

Ich schlage die Augen auf. Es dämmert und meine Muskeln schmerzen. Ich stehe auf und strecke mich. Ich denke an das, was ich träumte. Ich frage mich, was mir Angst macht und ich stelle fest, dass ich wenig Angst verspüre, die mich persönlich betrifft. Nein, hauptsächlich habe ich Angst um den Zustand unserer Gesellschaft. Angst davor, dass Gewalt ein probates Mittel zur Meinungsdurchsetzung wird. Angst davor, dass wir Menschen hauptsächlich nur unsere kurzfristigen, egoistische Ziele sehen und verfolgen, anstatt an das große Ganze zu denken. Dass wir Menschen, jegliche „Schwere“ scheuen und wir darum anfällig für Populisten sind, die einfache Lösungen versprechen, aber nicht wirklich eine nachhaltige Lösung bieten.
Doch, was mir wirklich Angst macht, ist, wenn aus Freunden Geister werden. Geister, da sie plötzlich nicht mehr auf Nachrichten antworten oder Treffen ohne Nachricht platzen lassen. Geister, die stumm sind und verlernt haben, zu kommunizieren. Kommunikation, als Grundlage allen sozialen Zusammenleben, die plötzlich nicht mehr wertgeschätzt und benutzt wird, wodurch sich nur noch gefährliches Schweigen ausbreitet. Schweigen, das gefüllt werden möchte. Doch womit?

Mir wird kalt, doch ich möchte nicht in eine Depression abgleiten. So esse und trinke ich eine Kleinigkeit, bevor ich meinen Weg fortsetze und ich mich auf die erwachende Natur konzentriere. Und während ich so laufe, geht die Sonne auf und wärmt mir Körper und Gemüt. Ich denke: „Vielleicht ist doch noch nicht alles zu spät, wenn wir wieder lernen, offen und ehrlich miteinander zu kommunizieren und nicht nur unsere kurzfristigen, egoistischen Ziele zu verfolgen. Vielleicht ist es doch noch nicht so spät, wenn die Geister der Vergangenheit uns als Warnung dienen und die Geister der Gegenwart offen und ehrlich zu sprechen lernen.“

Published inErzählungen

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