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Die verdorrte blaue Blume

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Ich lasse die Zeitung sinken und blinke in die Ferne. Ich frage mich, was nur aus unserer Welt geworden ist. Als wäre es noch nicht schlimm genug, dass es wieder mehrere Kriege gibt, die Umwelt mehr und mehr zerstört wird und der Klimawandel scheinbar ungehindert voranschreitet, nein, auch die romantische Liebe ist jetzt auch noch unter Druck. Die romantische Liebe, die scheinbar nicht mehr in unsere Zeit passt.
Der Artikel, der mich das denken lässt, heißt „Himmel, was ist Sugardating?“. Die Zeitung in der der Artikel steht, „Die Zeit“. Doch wirklich überrascht hat mich der Artikel, wenn ich ehrlich bin, auch nicht mehr, denn dafür habe ich schon vorher zu viel gelesen und auch selbst zu viel erlebt.
Doch was ist überhaupt die romantische Liebe, die in unserer Gesellschaft unter Druck gerät? Es ist die Liebe, die auf einer tiefen Zuneigung zweier Menschen zueinander basiert und über Standes- und kulturelle Grenzen hinweg wirkt. Aber vielleicht sollte ich etwas weiter ausholen.

Früher waren Beziehungen hauptsächlich Zweckbündnisse. In den höheren Schichten wurde man verheiratet um Besitz zu erweitern, zu erhalten oder Einfluss zu gewinnen. So heirateten häufig die Könige und Fürsten untereinander und selbst in der „niederen“ Schichten dienten Ehen hauptsächlich als Zweckbündnis, um die Existenz und den Unterhalt zu sichern, wobei in diesen Schichten noch eher die romantische Liebe eine Chance hatte, zu einer Liebesbeziehung zu führen, als in den oberen.
Diese Einstellung zu Ehen und Beziehungen änderte sich in der Epoche der Aufklärung und der Romantik. In ihnen kam es zu Bestrebungen, die Liebe von den Zweckbündnissen zu befreien und die Standes- und kulturellen Grenzen zu überwinden. Es wurde als hohes Gut und Glück angesehen, die romantische Liebe zu finden und eine romantische Beziehung aufzubauen. So entstand in der Epoche der Romantik auch das Bild der „blauen Blume“, die als Sinnbild für die romantische Liebe stand und deren Suche und ihr finden als höchstes Ziel galt.
Die Zeit verging und die Vorstellung der romantische Liebe durchzog unsere Gesellschaft. Schließlich kamen die Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts und damit die Zeit der sexuellen Befreiung. Doch war es auch die Zeit der Befreiung, der romantischen Liebe? Meiner Meinung nach: „Nein!“. Es war eher die Loslösung des sexuellen Vergnügens von der Liebe, um „Spaß zu haben“. Man konnte sich ohne Bindung, solange miteinander vergnügen, wie die beteiligten Personen Lust hatten, ohne wirklich Verantwortung füreinander zu übernehmen, und seinen Lebensweg zwanglos fortsetzen, wenn man keine Lust mehr auf den anderen hatte. Es war eher die Befreiung der fleischlichen Liebe und der sexuellen Lust, als die der romantischen Liebe, von der das Sexuelle losgelöst betrachtet wurde.
Es vergingen wieder einige Jahrzehnte und die gleichgeschlechtliche Liebe, die Jahrhunderte verboten war, wird erlaubt und die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frau, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Partnerschaft nimmt zu. Man könnte also meinen, dass die romantische und gleichberechtigte Liebe heutzutage in greifbarer Nähe ist und es heute möglich sein sollte, diese zu führen. Doch dem ist nicht so, denn von vielen Seiten ist die romantische Liebe unter Druck. So fordern und wünschen sich viele junge Männer wieder die Renaissance der „klassischen Liebe“ bzw. Beziehung, in der die Frau den Haushalt wirft, dem Mann den Rücken frei hält und darüber hinaus auch finanziell vom Mann abhängt. (Quelle: Plan-Umfrage 2023) Der Grund dafür? Der eigene Egoismus, dass Mann selbst etwas erreichen möchte und ein veraltetes Verständnis von Männlichkeit, bei dem der Mann der alleinige Entscheider und Ernährer ist. Denn worüber auch sonst sollte sich der „Mann“ definieren? In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch einmal auf den eingangs erwähnten „Die Zeit“-Artikel über das „Sugardating“ zu sprechen kommen. Also dem Dating, bei dem sich vorrangig junge Frauen ältere und / oder wohlhabende Männer suchen, die sie finanziell aushalten. In dem Text wird beschrieben, dass sich einige Frauen dafür feiern lassen, sich einen reichen Mann geangelt zu haben und tausende Follower und Likes dafür bekommen. Sie werden als Vorbilder für diese Art der Beziehung gesehen und ihnen nachzustreben, als Ideal betrachtet. Ich finde es schon etwas verstörend, wenn „Sugardating“ als neue Form der Emanzipation gesehen wird, denn wo bleibt da die romantische Liebe, die gleichberechtigt ist und auf Augenhöhe stattfindet, wenn es sich nur noch ums Geld dreht? Oder anders gefragt, wollen wir wieder zurück ins liebes technische Mittelalter?

In diesen Zusammenhang stellt sich mir auch die Frage, wie die verschiedenen Vorstellungen, was eine gute Beziehung ist, in unserer Gesellschaft entstehen? Ich bin der Meinung, dass zum einen unser Ideal von einer Beziehung durch die kulturelle und gesellschaftlichen Prägung, die man erfährt, wenn man aufwächst, also dadurch, was einem vorgelebt wird, bestimmt wird und zum anderen, durch die Auseinandersetzung mit dem Thema und der Frage, was man sich selbst von einer Beziehung erhofft. So wurde mein Bild von einer romantischen Beziehung sehr durch Romane und Berichte geprägt, in denen das Verständnis und die Gleichberechtigung zwischen den Partnern das höchste Gut war, während ich das Vorleben von Beziehungen durch andere, teilweise eher verstörend fand, nämlich dann, wenn man merkte, dass in den Beziehungen keine Liebe mehr wohnt, sondern sie nur weil es im Bett klappt oder aus Angst vor der Einsamkeit zusammen blieben. Die Texte, die mich prägten, handelten vom gegenseitigen Mögen, Verstehen und der Begegnung auf Augenhöhe. Es waren Erzählungen und Geschichten, bei denen das intellektuelle Verständnis wichtiger, als die körperliche Vereinigung war. Dementsprechend konnte ich auch nie verstehen, dass Bekannte und Freund*innen ausgelassen davon erzählten und zum Teil auch damit angaben, mit wem sie alles geschlafen hatten. Wobei einige, auf Nachfrage hin, sagten, dass es ihnen einfach Spaß mache. Wobei ich bei vielen eher den Eindruck hatte, dass sie es taten, um sich selbst zu bestätigen, nach dem Motto: „Seht her, wer ich bin und wen ich erobern kann.“ oder als Mittel gegen Selbstzweifel: „Ich bin doch noch nicht aus dem Rennen.“ Oder wie sagte einmal eine Bekannte zu mir: „Früher haben mich viele geärgert und gemobbt und doch habe ich es geschafft, mit einem nach dem anderen Sex zu haben, um ihnen so zu zeigen, dass ich doch wer bin und sie nur Schwanz gesteuert und nicht besser als ich.“ oder wie klagte ein Bekannter mit Ende zwanzig: „Wer bin ich schon, ich habe bisher nur mit drei Frauen geschlafen.“ Worauf ich irritiert erwiderte: „Das reicht doch. Es würde auch eine Frau reichen, wenn es gleich die Frau fürs Leben ist.“, worauf ich aber nur Unverständnis, auch von anderen Bekannten, erntete. Doch wer hat diesen Menschen solche Verhaltensweisen vorgelebt und woher kommt bloß die gesellschaftliche Anerkennung dieses Verhaltens?
An dieser Stelle möchte ich mich auch auf einen kleinen Exkurs in mein Datingleben begeben. So habe ich u.a. erlebt, dass man sich heute kaum noch Zeit nimmt oder nehmen möchte, sich wirklich kennenzulernen. Es verkommt das Kennenlernen und die Suche nach einer Beziehung vielmehr zur Jagt und zum Leistungstest. Die Direktive, dass man sich erst einmal kennen und mögen sollte, bevor man miteinander schläft, gilt nicht, sondern man schaut erst einmal, wie gut man im Bett performt. Oder wie sagt eine ehemalige Bekannte, nach dem ich zweimal mit ihr ausgegangen war: „Du bist mir zu langsam.“, als ich nach dem zweiten Treffen nicht gleich mit ihr schlafen und einen Performancetest, ablegen wollte, womit sie den Kennenlernprozess abbrach. Anscheinend war ich dadurch mein langsames Kennenlernen wollen, für sie schon zu einem Underperformer geworden.

Doch wie steht es jetzt um die romantische Liebe, die blaue Blume, in unserer Gesellschaft? Ich schaue mir die in der Romantik gepflanzten und über viele Jahrhunderte hinweg gepflegte blaue Blume an und stelle fest, dass sie verdorrt ist. Sie wurde in letzter Zeit vergessen und die Menschen haben sich anderen Idealen als ihr zugewandt, sodass sie nicht mehr gewässert wurde. Doch sollte das wirklich das Ende der blauen Blume sein? Ich schaue sie mir noch einmal genau an und entdecke eine Samenkapsel. Ich nehme die Samenkapsel in die Hand und zerdrücke sie vorsichtig. Einige wenige Samen fallen auf meine Hand und ich denke: „Vielleicht erwachsen ja aus ihnen, neue blaue Blumen, wenn sie nur ausgesät und gut gepflegt werden.“ Vielleicht ist es ja für die romantische, gleichberechtigte Liebe, die auf Augenhöhe stattfindet, noch nicht zu spät.

Published inKolumne

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