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Vom Schlußstrichziehen

Geschätzte Lesezeit: 18 Minuten

Ich sitze an der Theke einer Kneipe. Vor mir auf der Theke steht ein in der Mikrowelle zubereitetes Fertiggericht. Na dann, „Bon appétit!“ Während ich mir diese lauwarme Fertigmasse in den Mund stopfe überfällt mich Schwermut. Was mache ich nur an den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr alleine in einer Kneipe und besänftige meinen Hunger mit eklig schmeckender Fertigkost?Wie ist aus dem Menschen, der ich einst war, nur solch eine traurige Gestalt geworden?
Als ich mit dem Essen fertig bin bedanke ich mich bei der Wirtin für das Essen und bejahe die Frage, ob mir das Essen geschmeckt habe. Das ist zwar eine Lüge, aber im Moment habe ich einfach keine Lust auf eine Auseinandersetzung oder darauf, irgendjemanden vor den Kopf zu stoßen. Ich bestelle mir bei der Wirtin einen Pfefferminztee, in der Hoffnung, dass er mir meinen Magen beruhigt, damit das Essen nicht noch einmal durch meinen Mund wandert.

Als ich den Pfefferminztee habe, trinke ich einen Schluck. Zu meiner Überraschung schmeckt der Tee sogar gut. So nehme ich die Teetasse in die Hand, drehe mich mit dem Rücken zur Theke und lasse meinen Blick durch die Kneipe streifen. Ich stelle fest, das außer mir nur drei weitere Gäste in ihr sind. Der erste, auf den mein Blick fällt, ist ein Mann, der mit einem Glas Bier am einarmigen Banditen sitzt, und sich für kurze Momente des Glückes, Euro um Euro aus der Tasche ziehen lässt. Ich beobachte diesen Menschen eine Weile und sehe, wie sich ein Lächeln auf seine Lippen stiehlt, wenn er „gewinnt“, nur um danach den Automaten wieder mit Münze um Münze zu füttern. Dieser Mann wird Abends nachhause gehen, und das einzige was der Inhalt seines Tages war, ist Geld an einen Automaten verloren zu haben.

Als ich dem Trauerspiel satt werde, lass ich meinen Blick zum zweiten Anwesenden wandern. Der zweite Anwesende ist auch ein Mann. Auch er hat ein Glas mit Bier, doch anstatt sich mit einem einarmigen Banditen anzulegen, legt er sich mit dem gesamten politischen Systems Deutschlands an. Zumindest könnte man das bei den Dingen die er von sich gibt glauben. Der Grund für seine Äußerungen ist scheinbar die „Bild“, die er grade liest. Wobei lesen vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist. Der richtige Ausdruck ist konsumiert, denn er verschlingt schier die dargestellten konservativen Halbwahrheiten. Doch es bleibt nicht nur beim Konsum, nein, er macht sich das in ihr stehende Wort auch noch zu eigen. Er glaubt dem Geschriebenen, als handelte es sich bei ihm um göttliche Gebote.
Während ich den Mann beobachte muss ich an Immanuel Kant denken, der einst meinte, dass die Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit ist. Würde Immanuel Kant diesen Mann sehen, müsste er mit erschrecken feststellen, dass wir auch Jahrhunderte nach dem Beginn der Aufklärung, keine aufgeklärte Gesellschaft sind. Denn wo bitte benutzt dieser Mann seinen Verstand und seine Vernunft um selbst fundierte Entscheidungen zu treffen? Er benutzt sie nicht, sondern begibt sich freiwillig in die Abhängigkeit von Meinungsmachern, denen er schließlich nach den Mund redet.

Aber auch das Betrachten dieses voraufklärerischen Menschen wird mir langweilig und ich wende mich der dritten Person zu. Die dritte Person ist eine Frau. Die Frau hat eine Zigarette in der Hand und stochert mit einer Gabel, die sie in der anderen Hand hält, lustlos in ihrem Essen herum. Als ich die Frau sehe wird mir wieder bewusst, dass ich mich in einem Raucherlokal befinde. Normalerweise mache ich ja einen Bogen um diese Lokalitäten, da ich dem Gestank von Rauch nichts abhaben kann. Doch war diese Kneipe nun mal die einzige, die sich in der Nähe meiner Wohnung befindet und die ich aufgrund dessen gut zu Fuß erreichen kann.
Ich zwinge mich meine Gedanken von dem Hass auf Raucherkneipen freizubekommen und stattdessen die Frau eingehender zu betrachten. Irgendwoher kommt mir die Frau bekannt vor. Es vergeht ein Moment und mir wird bewusst, dass es sich bei ihr um eine alte Schulfreundin handelt. Es handelt sich um eine Schulfreundin, mit der ich aber bestimmt schon seit zehn Jahren nicht mehr befreundet war, da wir im Streit auseinander gingen. Ich überlege, ob ich zu ihr gehen soll, um sie zu fragen, ob sie sich noch an mich erinnert, um zu erkunden, ob sich seit damals unsere Gemüter wieder beruhigt haben. Doch ich entscheide mich dagegen, denn als ich so darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass wir uns über all die Jahre bestimmt auch auseinander gelebt haben.

Ich wende mich auch von der Frau ab, und der Wirtin zu, um ein Glas mit Wasser zu bestellen. Als die Wirtin mir das Glas hinstellt, sagt sie auf einmal: „Wie kommt es eigentlich, dass du heute hier bist? Ich habe dich zwar schon ab und an mal im Ort und auch hier vorbeilaufen sehen, doch habe ich dich noch nie als Gast in meiner Kneipe begrüßen dürfen. Wie kommt es, dass du jetzt gerade, zwischen Weihnachten und Neujahr, wenn die meisten Menschen ihre Zeit mit ihren Familien und Freunden verbringen, in meine kleine Kneipe kommst?“
„Ich hatte das Gefühl, dass mir zuhause die Decke auf den Kopf fällt.“
„Warum das?“
„Ich war unzufrieden mit vielen Dingen, die mein Leben ausmachten, und so habe ich an vielen Stellen Schlussstriche gezogen. Schlussstriche, die einige meiner Bekannten nicht verstehen konnten und mir deswegen wegen ständig in den Ohren lagen. Sie meinten, dass man das und das nicht machen könne. Sie meinten mein Verhalten sei asozial, und und und…“

Es tritt ein Moment des Schweigens ein, in dem mich die Wirtin skeptisch, aber doch auch interessiert ansieht. Schließlich meint sie: „Das musst du mir ausführlicher erklären.“
Ich überlege, ob ich ihr wirklich von all dem erzählen soll, unter das ich einen Schlussstrich gezogen habe und gelange zu der Überzeugung, dass es ja nicht schaden kann. Doch wie am besten anfangen, damit sie dass was ich getan habe auch versteht? Am besten mit praktischen Beispielen! Und so fange ich an zu erzählen:
„Damit du verstehst, warum ich Schlussstriche ziehen musste, muss ich etwas weiter ausholen. Ich werde damit beginnen, dir anhand von Beispielen aufzuzeigen, warum es meiner Meinung nach wichtig ist, Schlussstriche zu ziehen, und wann es manch einmal besser ist, noch etwas zuwarten, bis man einen Schlussstrich zieht. Möchtest du meine Ausführung als Antwort auf deine Frage immer noch hören, oder doch lieber nicht?“
„Da recht wenig los ist, und ich dadurch wenig zu tun habe, werde ich deinen Ausführungen folgen. Vielleicht lerne ich ja noch etwas für mein Leben.“ Sie zwinkerte mir kurz zu und sagte noch: „Na dann schieß mal los.“

„Also gut. Wo fange ich jetzt am besten an?“ Ich sehe mich noch einmal in der Kneipe um und betrachte die anwesenden Gäste. Ja, die Gäste sollen mir als Beispiele dienen. Und so sage ich: „Siehst du den Mann, der am Spielautomat sitzt und ein Bier in der Hand hält?“
„Ja, ich sehe und kenne ihn auch. Er ist jeden Tag hier und sitzt am Spielautomaten.“
„Ich weiß nicht, ob du ihn mal eingehender beobachtet hast, aber ich habe den Eindruck, dass er ein Problem damit hat, vernünftig Schlussstriche zu ziehen. Ich komme zu dieser Annahme, da ich regelmäßig sehe, wie er etwas Geld gewinnt. Dabei gewinnt er manchmal sogar soviel, dass es bestimmt mehr Geld ist, als wie er bereits einsetzte. Doch er hört nie mit dem Spielen auf. Er setzt seinen Gewinn wieder und wieder ein, bis er schließlich all sein Geld verloren hat. Kannst du mir, die ihn ja schon länger kennt, zustimmen?“
Die Wirtin schaut mich nachdenklich an und fragt dann: „Das hast du alles festgestellt, obwohl du heute zum ersten Mal hier bist, und diesen Mann nicht kennst? Aber du hast recht, er spielt immer so lange, bis er kein Geld mehr für ein weiteres Bier oder ein weiteres Spiel hat. Erst dann verlässt er die Kneipe.“
Durch ihre Bestätigung meiner Annahme ermutigt fahre ich fort: „Du siehst, er kann selbst keinen Schlussstrich ziehen. So kann er nur aufhören zu spielen, oder zu trinken, wenn es extrinsische Einflüsse ihm unmöglich machen weiterzumachen. Die extrinsischen Einflüsse sind, dass ihm die Dienstleistung des Spielens oder die Bewirtung durch dich, ohne Geld nicht mehr zur Verfügung steht.“
Ich glaube zu sehen, wie der Wirtin Fragezeichen auf der Stirn stehen und so frage ich: „Entschuldige, habe ich etwas Falsches gesagt, oder mich unverständlich ausgedrückt?“ und da platzt es aus ihr heraus und sie fragt: „Was um Himmels willen ist extrinsisch?“ „Als extrinsisch bezeichnet man etwas, dass von außen her vorgegeben bzw. festgelegt wird. Dem extrinsischen steht das intrinsische gegenüber. Dabei bedeutet intrinsisch dann, dass etwas von einem Selbst ausgeht. Ein Beispiel für intrinsisch wäre, wenn der Mann zu der Überzeugung gelangte: ‚Ich verspiele mein Geld nicht mehr an Spielautomaten, sondern suche mir Freunde, mit denen ich dann Gesellschaftsspiele spiele, denn das ist in der Regel günstiger und bereitet einen mehr Freunde.‘“ Auf diese Erklärung hin nickt die Wirtin verstehend und entschuldigt sich kurz, da der Mann mit der „Bild“ noch ein Bier möchte.

Als die Wirtin wieder zurück ist, fragt sie: „Ok, ich sehe dass der Mann einen Schlussstrich ziehen sollte. Er sollte entweder jeden Tag einen kleinen Schlussstrich ziehen, oder einmal einen großen unter dass ganze Thema Spielautomaten. Doch was hat das jetzt mit dir zu tun?“
„Moment, ich bin noch nicht soweit. Bevor ich das erzähle, möchte ich noch einige andere Beispiele bezüglich des Ziehens von Schlussstrichen bringen. Nehmen wir zum Beispiel den Herrn mit der ‚Bild‘, der die ganze Zeit unfundierte Stammtischparolen vor sich hin murmelt. Ich bin der Meinung, dass dieser Mann mehr als einmal in seinem Leben zu früh einen Schlussstrich gezogen hat. Nämlich in den Bereichen Allgemeinbildung, Charakterbildung und Empathie.“
Die Wirtin sieht mich entsetzt an, und fragt ungläubig: „Wie kannst du nur so etwas über einen Menschen sagen, denn du gar nicht kennst?“
„Ganz einfach. Ich höre was für menschen- und lebensverachtende Dinge er vor sich hin murmelt und wie er Schmierenblättern und Populisten recht gibt. Bei den Dingen, die er von sich gibt, fühle ich mich an viele Bekannte aus meinen jungen Jahren erinnert. Bekannte, die irgendwann vor der Komplexität der Welt kapitulierten und dann gar nicht mehr versuchten die Welt zu verstehen. Diese Bekannten glaubten stattdessen den Versicherungen von Populisten, die gewusst ihre Ängste vor Statusverlust schürten, um sich ihre Unterstützung zu sichern. Es waren Bekannte, von denen ich häufig den Satz ‚Ich muss nicht alles wissen.‘ zu hören bekam, als ich sie dazu animieren wollte, sich ihres Verstandes zu bedienen. Und in diesen Situationen ging es häufig nicht einmal darum, dass sie etwas wissen mussten, nein, sie sollten häufig nur sich und ihr Handeln hinterfragen. Diese Bekannten wurden zu Menschen wie dieser Mann, aus dessen Aussagen man die Angst vor Statusverlust herauslesen kann. Angst vor einem Statusverlust, den er selbst beschleunigt, indem er, global gesehen, über seinen Verhältnissen lebt und sein kostbarstes Gut, nämlich seine Lebenszeit, nicht für seine Wesensbildung einsetzt. Nein, Wesensbildung die von ihm selbst ausgeht, betreibt er schon lang nicht mehr. Sein Wesen wird von Meinungsmachern geprägt. Von Meinungsmachern, die sich als graue Herren erweisen, die ihm Lebenszeit und Lebensqualität stehlen, mit der Angst vor dem Verlust eben dieser.“

Ich halte ein. Mein Hals fühlt sich wie eine Wüste an. Ich trinke einen Schluck Wasser. Mir kommt es auf einmal unheimlich Still vor. Ich sehe die Wirtin an. Sie sieht mich an. Sie kaut auf ihrer Unterlippe. Sie sagt: „Mir scheint, dass du mit Menschen, wie sie für dich dieser Mann darstellt, schlechte Erfahrungen gemacht hast.“
„Teils, zum Teil ja, da sich das Unverständnis dieser Menschen manch einmal als Wut oder Gewalt entlädt, dessen Opfer ich schon geworden bin. Doch was mich am meisten an solchen Menschen stört ist, dass sie die Meinung vertreten, nur auf Grund ihrer Geburt ein Anspruch auf einen hohen Lebensstandard zu haben, und sie diesen Lebensstandard anderen Menschen verwehren wollen. Dabei dachte ich, dass wir die Zeit der Feudalsysteme hinter uns gelassen haben. Und alle Lebewesen von Geburt her die gleichen Rechte und Pflichten haben.“

Sie sieht mich forschend an, und nach einem Moment, der mir endlos vorkommt, meint sie: „Ich glaub an dir ist ein Philosoph verloren gegangen. Ich muss zwar zugeben, dass du mit vielen Dingen Recht hast, doch in dieser Hinsicht bin auch ich ein Egoist und sage, mir soll es zuerst einmal gut gehen, bevor ich an andere denke. Doch Themen bzw. Personenwechsel. Wie schätzt du die Frau, die dort sitzt, ein. Wo hat sie zu früh einen Schlussstrich gezogen, bzw. wo hat sie es verpasst einen Schlussstrich zu ziehen.“ Während die Wirtin das sagt, zeigt sie mit ihrem Kinn zu meiner alten Schulfreundin.

„Dazu muss ich sagen, dass ich die Frau kenne. Sie ist eine alte Schulfreundin von mir.“ setzte ich an, doch ich halte inne, da ich nicht weiß, wie ich fortfahren soll. In die Stille die ich hinterlasse, meint die Wirtin: „Na dann müsstest du ja recht gut wissen, welche Schlussstriche in ihrem Leben eine Rolle spielen oder spielen sollten.

Ermutigt durch ihre Worte beginne ich: „Wie offensichtlich ist, hat sie vergessen den Schlussstrich beim Rauchen zu ziehen. Ich weiß, dass sie das Rauchen mit fünfzehn angefangen hat, um vor ihren Freundinnen cool zu wirken. Das hat sie mir selbst einmal gesagt. Doch im Gegensatz zu ihren Freundinnen, die mit dem Rauchen bald wieder aufhörten, ist sie ihm treu geblieben. Treu, wie sie keinem Mann in ihren Leben geblieben ist. Womit ich zum zweiten Punkt komme, an dem sie vergessen hat, einen Schlussstrich zu ziehen. Doch dafür muss ich aber noch etwas weiter ausholen.
Zu jener Zeit, als sie mit dem Rauchen anfing, entdeckte sie auch die Freuden der sexuellen Lust und fing an ihre ersten Erfahrungen in dieser Hinsicht zu sammeln. Sie experimentierte mit Menschen beiderlei Geschlechts und lebte in dieser Hinsicht frei und unbeschwert. Bestätigung in ihrem Handel erfuhr sie durch ihre Freundinnen, die sie darum beneideten, dass sie die geilsten Typen abschleppen konnte. Was sie nicht mitbekam bzw. nicht mitbekommen wollte, war, dass ihre Freundinnen sie hinter ihren Rücken gleichzeitig als Schlampe bezeichneten. So kam es, dass ihre Freundinnen bald feste Freunde fanden, und das Verhalten ihrer einstigen Freundin als unangebracht empfanden, wodurch die Freundschaften zerfielen. Meine Schulfreundin bekam aufgrund dessen keine Bestätigung mehr von dieser Seite, doch das war ihr mittlerweile egal. Der Grund dafür war, dass sie sich zwischenzeitlich selbst der liebste Mensch geworden war und dachte, dass all ihre alten Freundinnen doch keine Ahnung hätten. Schließlich war sie es ja, die jeden Kerl haben konnte, und das war ja wohl Bestätigung genug. Um ehrlich zu sein, mit dieser Einstellung war sie nicht allein in meinen damaligen sozialen Umfeld. Ich kannte auch viele Kerle, die sich ihre Bestätigung über ihre sexuellen Eroberungen suchten und Depressionen bekamen, wenn sie es mal einen Monat lang nicht schafften, eine Frau abzuschleppen. Doch ich schweife ab.
Was ich damit sagen möchte, die Frau war in meinem Bekanntenkreis mit ihrer Einstellung in guter Gesellschaft. Doch was ich bei ihr darüber hinaus feststelle, war, dass sie keine festen Beziehungen führen konnte. Ihre Beziehungen dauerten in der Regel nur ein bis zwei Monate, bevor ihr die Bestätigung ihres Wesens und Körpers fehlte. Damit meine ich, dass sie es nicht für eine Herausforderung hielt, immer mit dem gleichen Mann zu schlafen, da es irgendwann kein Abenteuer und keine Herausforderung mehr war.
So vergingen die Jahre und man sah regelmäßig die unterschiedlichsten Kerle an ihrer Seite. Als sie schließlich dreißig wurde und an ihren Geburtstag zwei verschiedene Männer innerhalb von vier Stunden auf ihrer Geburtstagsfeier verführte, sagte ich ihr meine Meinung zu diesem Thema. Als Erwiderung schmetterte sie mir entgegen, dass ich doch keine Ahnung hätte und dass ich die Feier verlassen solle, wenn ich so von ihr dächte. Gut, recht hatte sie. Es zwang mich niemand auf ihrer Geburtstagsfeier zu sein. Doch ich hatte immer gedacht, dass Freunde einander immer ehrlich die Meinung sagen sollen, auch wenn sie unbequem ist und ich hatte ja nichts anderes getan.

Mittlerweile ist meine alte Schulfreundin über vierzig und ich höre von meinen Bekannten, dass sie sie immer noch regelmäßig, mit den verschiedensten Männern händchenhaltend und küssend durch den Ort laufen sehen. Meiner Meinung nach hat sie somit den Zeitpunkt, einen Schlussstrich unter die Zeit ihrer sexuellen Experimentierlust zu ziehen und mal etwas wirklich Ernstes zu wagen, verpasst.“
Ich ende mit der Erzählung und trinke das restliche Wasser in meinem Glas und bitte die Wirtin um ein neues. Sie nimmt wortlos das leere Glas und stellt mir ein frisches Glas mit Wasser hin. Ich trinke einen Schluck und bleibe stumm. Mir dreht sich der Kopf. So viele Bekanntschaften hatte ich in all den Jahren gemacht. So viele Schlussstriche gezogen, manch einen zu früh, manch einen zu spät.

Die Wirtin durchbricht die Stille, indem sie sagt: „Ok, das sind die Schlussstriche, die diese Menschen zu früh oder zu spät gezogen hat, doch was hat das jetzt damit zu tun, dass du heute hier bist?“
Ach ja, das war ja die Ausgangsfrage gewesen. Aber gut, wenn sich die Wirtin schon meine ganzen abstrusen Erzählungen und Analysen angehört hat, so soll sie auch hören, warum ich heute zum ersten und wahrscheinlich auch zum letzten Mal in ihrer Kneipe sein werde.

„Ich habe in den letzten Tagen viele Schlussstriche unter alte Freundschaften und Bekanntschaften gezogen. Freundschaften und Bekanntschaften, die ich versuchte über Jahre hinweg am Leben zu halten. Wobei die Versuche häufig nur von meiner Seite ausgingen. Über die Jahre hinweg hatte ich viele solcher Freund- und Bekanntschaften gesammelt und es wurden immer mehr. Der Grund dafür war, dass ich es ungern sehe, wenn Freundschaften und gute Bekanntschaften langsam sterben, einfach weil der Kontakt einschläft, oder man einmal einen Streit hatte. Das mag seltsam aus meinem Mund klingen, denn wie du bestimmt bereits bemerktest scheue ich eigentlich keine Konflikte und manch einer würde auch sagen, dass ich ein provokantes Auftreten habe. Doch abseits von diesem Auftreten bin ich aber ein friedliebender Mensch, der in Harmonie mit seinem Umfeld und sich selbst leben möchte. Doch gelangte ich bereits in frühen Jahren zu der Überzeugung, dass ich nie um der Harmonie willen mit meiner Meinung hinter dem Berg halten werden. Der Grund dafür ist, dass ich der Meinung bin, dass Freund- und gute Bekanntschaften Kritik und die Meinung der Beteiligten aushalten müssen, da es sonst eben keine Freund- oder gute Bekanntschaften sind. Doch ich schweife wieder ab.
Wo war ich? Ach ja. Ich beendete viele dieser alten Freund- und Bekanntschaften, die sich als ein Zeit und Nerven raubender sozialer Wulst in meinem Leben angesammelt hatten. Ich beendete sie, da sie mich daran hinderten, im Hier und Jetzt zu leben. Ich beendete sie, da ich wieder im Jetzt mein Glück finden und nicht vergangen glücklichen Momenten hinterher trauern wollte. Wie habe ich sie beendet? Ganz einfach indem ich sie aus all meinen Social-Media-Plattformen und aus meinem Adressbuch löschte. Warum damit die Freundschaft beendet ist? Ganz einfach, der Kontakt ging ja meistens sowieso von mir aus, und wenn ich mich nicht meldete, hörte man nichts voneinander.
Eine gute Bekannte meinte zu diesem Verhalten, dass es asozial sei. Doch was ist daran asozial, wenn man Menschen, mit denen man nichts mehr gemein hat, und die man wahrscheinlich nicht mehr auf der Straße erkennen würde, aus seinen Leben verband. Nichts! Zusätzlich zu diesen Freund- und Bekanntschaften schmiss ich auch all die Menschen aus meinen Freundeslisten auf den Social-Media-Plattformen, die mir eigentlich zuwider waren, da ich ihren Lebensstil oder ihre Art einfach nur abstoßend finde, und ich ihre ‚Freundschaftsanfragen‘ nur als Geste des guten Willen annahm. Zu guter Letzt zog ich einen Schlussstrich unter eine alte Liebe. Es war eine Liebe, die leider nur von mir ausging. Es war eine Liebe, in die ich mich verrannt hatte und an der ich mich fest klammerte, obwohl wenig Hoffnung auf Erfolg bestand. Unter dieses Kapitel einen Schlussstrich zu ziehen fiel mir besonders schwer. Und ich tat das, was ein gutes Mittel ist, wenn man einen Schlussstrich setzen und es sich auch selbst deutlich machen möchte. Man zieht den Schlussstrich symbolisch! So habe ich vor vielen Jahren beispielsweise mit dem Rauchen aufgehört in dem ich symbolisch eine volle Schachtel Zigaretten verbrannte. Ich habe mit dem Trinken von Alkohol aufgehört, indem ich all den Alkohol, der sich bei mir im Haus befand, in den Abfluss goss. Und was meine alte Liebe betraf, so löschte ich alle digitalen Bilder von ihr. Die Bilder und Briefe, die ich physikalisch vorliegen hatte, zerriss oder verbrannte ich. Jetzt müsste ich nichts mehr besitzen, was mich an sie erinnern könnte. Den letzten Schlussstrich, den ich in den letzten Tagen zog, war die Kündigung meiner Wohnung und meines Arbeitsplatzes, um irgendwo, wohin mein Herz mich führt, noch einmal ganz von vorne, ohne Altlasten, zu beginnen.“

Ich höre auf zu sprechen und trinke einen Schluck Wasser. Nachdem ich etwas getrunken habe sehe ich die Wirtin herausfordernd an. Ich warte darauf, dass sie mein Verhalten verurteilt, doch nichts passiert. Es herrscht wieder bedrückende Stille. Ich sehe wie das Gesicht der Wirtin traurige Züge annimmt. Habe ich vielleicht etwas verkehrtes gesagt? Ich weiß es nicht und so frage ich: „Ist mit dir alles in Ordnung?“
„Ja, es ist alles in Ordnung. Ich kann das, was du sagst, gut verstehen.“ Sie zwingt sich ein Lächeln auf die Lippen, was aber offensichtlich gezwungen und falsch ist. Es vergehen wieder Minuten des Schweigens und ich mache mich bereit bei ihr meine Rechnung zu bezahlen um nachhause zu gehen, als sie sagt: „Du hast heute all die Leute in meiner kleinen Kneipe bezüglich des Ziehens von Schlussstrichen analysiert, einschließlich dich selbst. Alle bis auf mich. Darum meine Bitte, analysiere mich. Sage mir, wo du denkst, dass ich zu früh oder zu spät einen Schlussstrich gezogen habe.“

Ich überlege einen Moment, ob ich das wirklich tun soll. Der Grund dafür ist, dass ich weiß, dass ihr meine Antwort nicht gefallen wird. Vor allem da ich ahne, dass sie bereits die Antwort auf ihre Frage kennt, sich aber bis jetzt noch nicht mit ihr abfinden konnte. Die Antwort ist, dass sie es bis heute nie schaffte unter ihre Träume, auch wenn sie sich als Albträume erwiesen, einen Schlussstrich zu ziehen und zu versuchen, andere Träume zu leben, die vielleicht glücklicher sind.
Aber wenn sie mich schon direkt danach fragt, dann hat sie auch eine ehrliche Antwort meinerseits verdient, vor allem nach dem sie sich meine ganzen Analysen anderer Menschen anhörte. So sage ich: „Du hast vergessen einen Schlussstrich unter deinen Traum zu ziehen, als er sich begann in einen Albtraum zu verwandeln. Früher bist du viel gereist, wie die Bilder, die hier von dir an den Wänden hängen, zeigen. Doch wenn man sich die Bilder genauer betrachtet, stellt man fest, dass das was sie abbilden schon zehn Jahre oder noch länger her ist. Es sind Bilder von Reisen und Begegnungen die dich einst prägten und die dich wahrscheinlich dazu brachten, diese Kneipe zu übernehmen. Eine Kneipe, die dich ortsgebunden werden lässt, um vielleicht einmal eine Familie zu gründen. Es war die Sehnsucht nach Ortsgebundenheit, ohne das vermissen wollen von Begegnungen, die dich dazu brachten, in diese kleine Kneipe deine Ersparnisse und deine Zeit zu investieren. Eine Kneipe, in die vielleicht mal Touristen kommen, die von ihren Ländern und Reisen erzählen. Das hofftest du zumindest.
Doch die Touristen sollten nicht kommen. Die einzigen, die kamen, waren die alten Stammgäste die schon beim Vorbesitzer kamen. Es waren Stammgäste, die bis heute neunundneunzig Prozent deiner Kundschaft ausmachen. Doch du wolltest und willst es nicht wahrhaben, dass das alles sein sollte, dass dies dein Traum ist, den du Leben wolltest. So nimmst du selbst in kauf, dass du von der Hand in dem Mund lebst. Dass du schon einen Moment des Glückes verspürst, wenn du am Ende des Monats mit Plus Minus Null herauskommst. Du denkst und hoffst, dass die Entbehrungen nur temporär sind, und dass sich eines Tages alles ändern wird. Und dafür nimmst du in kauf, dass deine zweite Leidenschaft, nämlich das Reisen, brach liegt.
Frage dich selbst einmal, ob es dass hier ist, was du in deinem Leben tun wolltest? Wolltest du Tag für Tag hinter dem Tresen stehen und traurige Gestalten bedienen? Nein, bestimmt nicht! Und wenn du ehrlich zu dir bist, musst du zugeben, dass du schon vor Jahren einen Schlussstrich hättest ziehen sollen.“

Wieder Stille. Die Wirtin sitzt schweigend da. Auf mich macht sie den Eindruck, als wäre etwas in ihr zerbrochen. Hätte ich doch nicht auf ihre Frage antworten sollen? Vielleicht. Doch jetzt ist es zu spät. Ich gebe ihr das Geld für meine Speise und meine Getränke und verabschiede mich, wozu sie gezwungen lächelt. Ich mache mich auf, die Kneipe zu verlassen.

Auf den Weg aus der Kneipe komme ich an meiner alten Schulfreundin vorbei. Als ich auf ihrer Höhe bin sagt sie: „Ich habe all das, was du über mich sagtest, gehört. Ich möchte dir jetzt nicht deswegen eine Szene machen, doch möchte ich dir sagen, dass du in all den vergangenen Jahrzehnten nie geschafft hast, einen Schlussstrich unter deine Besserwisserei und deine Kritikfreudigkeit zu ziehen. Vielleicht solltest du das einmal versuchen.“
Auf die Ansprache meiner alten Bekannten hin, bin ich etwas verlegen. Ich überlege einen Moment, was ich erwidern soll und sage schließlich: „Ich habe echt versucht unter diese beiden Charaktereigenschaften einen Schlussstrich zu ziehen, da ich dann bestimmt ein ruhigeres und entspannteres Leben führen könnte. Doch bis jetzt scheiterte jeder meiner Versuche. Schlussendlich muss ich mir eingestehen, dass das eines meiner Probleme ist, mit dem die Welt leben muss.“

Ohne noch eine Erwiderung abzuwarten verlasse ich die Kneipe ganz und bin im Freien.

Published inErzählungen

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