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Vom ersten und vom letzten Kuss

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Vor vielen Jahren hatten wir uns kennengelernt. Wir lernen uns in einem Restaurant kennen, in dem wir beide zufälligerweise, an der gleichen kulinarischen Veranstaltung teilnahmen. Bei der kulinarischen Veranstaltungen handelte es sich um ein Themenessen, bei dem alle Gerichte und Getränke einem Thema entsprechend ausgewählt, hergerichtet und gereicht wurden. Es war ein schöner Abend, an dem wir zuerst zögerlich, doch dann immer enthusiastischer eine aufregende Unterhaltung führten. Wir sprachen an jenem ersten Abend, unseres Kennenlernens, über Gott, die Welt und die menschliche Gesellschaft. Wir sprachen über Politik und darüber, wie unserer Meinung nach eine bessere Gesellschaft aussehen sollte. So verging die Zeit wie im Flug und als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, machten wir aus, uns mal wieder zu treffen, um die begonnene Unterhaltung fortzuführen.
Aus dem ersten und dem folgenden Treffen wurden schließlich unzählbar viele Treffen, bei denen wir über Gott und die Welt philosophierten oder einfach etwas gemeinsam unternahmen und eine schöne Zeit verlebten.

Über viele Treffen und Monate hinweg wurden wir erst wirklich gute Freunde und dann, nach dem etwa ein Jahrzehnt, seit unserem Kennenlernen, vergangen war, auch ein Paar. Warum es so lange gedauert hat, bis wir die freundschaftliche Ebene verließen, ist leicht erklärt. Der Grund dafür war, dass wir beide andere Beziehung führten und eigentlich nie gleichzeitig Single waren. Doch nicht nur das. Wenn ich jetzt rückblickend wirklich ehrlich bin, so war der eigentliche Grund eher, dass wir um nichts in der Welt unsere Freundschaft gefährden wollten. Wir wollten nicht riskieren, dass eine Beziehung, mit allen ihr innewohnenden Unwägbarkeiten dazu führte, dass wir in Streit gerieten und dadurch unsere Freundschaft verlören. Kurz, wir wollten einfach nicht das, was wir bereits besaßen, riskieren.
Die langsame, körperliche Annäherung kam schließlich, als wir beide gleichzeitig, über ein halbes Jahr lang, keinen Partner hatten. In dieser Zeit unternahmen wir besonders viel gemeinsam, da wir sonst nicht wirklich etwas mit unserer Freizeit anzufangen wussten. Wir gingen auf Konzerte und andere Veranstaltungen. Drohte es doch einmal, einen langweiligen Tag zu geben, beschlossen wir einfach, gemeinsam zu kochen und anschließend einen Film zu schauen. Sobald wir das taten, konnte von Langeweile keine Rede mehr sein.
An einem dieser Tage geschah es schließlich, dass meine Bekannte, nachdem wir eine schlechte Liebeskomödie gesehen hatten, meinte, dass wir, abgesehen vom körperlichen Kontakt, eigentlich alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Liebesbeziehung erfüllten. Auf ihre Aussage hin sah ich sie verblüfft an, worauf sie lachte, sanft meinen Kopf nahm, ihn zu sich zog und mich sanft auf den Mund küsste. Erst sträubte sich etwas in mir, denn ich hatte den Eindruck, dass alles begann aus dem Ruder zu laufen. Doch das war nur einen kurzen Moment der Fall, denn schon nach wenigen Millisekunden sprach das „Es“ in mir ein Machtwort und die Zweifel verstummen. So erwiderte ich ihren Kuss mit aller Leidenschaft, zu der ich fähig war.
Wir saßen da und küssten uns einfach. Schließlich, nach einigen Minuten, als sich unsere Lippen wieder voneinander trennten, sagte sie, dass das doch gar nicht so schlimm gewesen sei. Doch nicht nur das. Sie fragte auch, was ich davon hielte, wenn wir beschlössen, das unsere Lippen von diesem Tag an nur noch exklusiv für einander bestimmt sein sollten. Mit vor Leidenschaft bebender Brust und auf Wolke sieben schwebend, stimmte ich ihren Vorschlag zu, worauf sich unsere Körper und Lippen wieder aneinander schmiegten und sich in Liebesbekundungen ergaben.

Ab diesem Abend waren wir ein Paar und ich muss sagen, dass ich niemals bereute, mit ihr diesen Schritt gegangen zu sein. Wir verlebten viele glückliche und sorglose Jahre und hielten stets das Versprechen, der Exklusivität unserer Lippen füreinander.
Doch wenn die Zeit besonders schön ist, vergeht sie meistens viel zu schnell. So auch bei uns. Die Jahre vergingen und sie wurde krank. Sie litt an Leukämie und trotz aller Behandlungen und zwischenzeitlichen Erfolge, gegen diesen schwer greifbaren Feind, verlor sie den Kampf am Ende und starb.

Das letzte Mal, dass meine Augen auf ihr ruhten, war als ihr Sarg aufgebahrt wurde. Sie lag da, im Sarg, bleich, fast wie eine Marmorbüste. Doch trotz dieses kalten Anblicks konnte ich nicht anders, als sie ein letztes Mal zu küssen. Es war ein flüchtiger Abschiedskuss, auf ihre Stirn, mit dem ich ihr für immer „Good bye.“ sagte. Kurz nach diesem Kuss wurde der Sarg geschlossen und ihr Anblick verschwand für immer aus meinem Blickfeld. Nach dem Schließen des Sarges, wurde er zum Friedhof transportiert, wo er für die nächsten Jahre im Erdreich ruhen sollte. Auf dem Friedhof wurde der Sarg in ein vorbereitetes Loch herabgelassen, mit Erde bedeckt und die frisch aufgeschüttete Erde schließlich mit schmückenden Kränzen dekoriert. Dort, auf dem Friedhof, in der kalten Erde, sollte also der Leichnam meiner Seelengefährtin für die nächsten Jahrzehnte ruhen. Dort sollte er Ruhen, bis schließlich die Liegezeit verstrichen wäre und er irgendwann, in ferner Zukunft, wieder ausgegraben und anderweitig entsorgt würde.
Was mich betraf, so wurde an diesem Tag auch ein Stück von mir, mit meiner Seelengefährtin begraben. Als ich an diesem Tag nachhause kam, waren meine Tränen zwar versiegt, doch nicht deswegen, weil ich keine Trauer mehr spürte, nein, meine Tränen waren versiegt, da ich Stunde um Stunde geweint hatte, bis einfach keine Tränen mehr aus meinen Augenwinkeln liefen. Zu Hause angekommen igelte ich mich ein. Für Tage und Wochen zog ich mich in mich und in meine Wohnung zurück und konnte die gesamte Zeit meine Freundin und unsere gemeinsame Zeit einfach nicht vergessen. Doch nicht nur das. Ich konnte auch nicht das Gefühl auf meinen Lippen vergessen, das ich spürte, als ich sie zum letzten Mal, zum allerletzten Abschied, auf die Stirn küsste. Das Gefühl von kalter Haut, dass gar nichts mehr mit ihrem warmen Herzen und ihrer lieben, offenen Art zu tun hatte. Das Gefühl, dass alles, was sie ausmachte, vergangen war und jetzt, am Ende ihres Lebens, nichts mehr von ihr blieb.
Doch halt, das stimmte so nicht. Von ihr blieben die Erinnerungen, an unsere gemeinsame Zeit, in meinem Herzen. Die Erinnerung an die warmen, leidenschaftlichen Küsse, die wir in den Jahren unserer Partnerschaft austauschten. Die Erinnerungen an ihr warmes Lächeln, das den Schwermut aus den Herzen vieler Menschen, besonders aus meinem Herzen, vertrieben hatte. Von ihr blieb sehr viel auf dieser Erde zurück. Soviel, an dass ich mich Zeit meines Lebens erinnern könnte.
An diesem Abend beschloss ich, mein restliches Leben ihr und unseren Überzeugungen zu widmen, um so zu versuchen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Ich beschloss sie, Zeit meines Lebens nicht zu vergessen, bis schließlich irgendwann der Tag käme, an dem auch mein Körper seinen Dienst versagte und mein Leichnam in den Leib von Mutter Erde gebettet würde. In den Leib von Mutter Erde, wo ich für alle Ewigkeit wieder zusammen mit meiner Seelengefährtin wäre, auch wenn unsere Gebeine selbst, irgendwann wieder ausgegraben werden sollten.

Published inErzählungen

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