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Nah am Wasser gebaut

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Handelnde Personen:
Lyrisches-Ich:
Mensch, dem in bestimmten Situationen schnell die Tränen in die Augen steigen.

Geschichte:
Sollte ich mich selbst beschreiben, beschriebe ich mich als einen normalen Menschen. Wobei, was ist dieses „normal“ in unserer heutigen Zeit schon? Vielleicht sollte ich mich auch als einen empathischen Menschen beschrieben, wobei diese Beschreibung den Nagel auch nicht auf den Kopf träfe. Wer oder was bin ich also?
Vielleicht sollte ich mir mal anschauen, wie mich andere Menschen bezeichnen. Mmh, also andere Menschen bezeichnen mich häufig als „crybaby“, „Memme“ oder „Heulsuse“, wobei das eigentlich auch nur Stigmatisierungen sind. Denn ich selbst denke nicht von mir auf diese Weise. Es mag vielleicht stimmen, dass ich nah am Wasser gebaut bin und mir häufig die Tränen in die Augen steigen, doch liegt die Ursache häufig nicht darin, dass ich vor körperlichen Schmerzen oder weil mich jemand mit oder ohne Grund anschreit, weine. Nein, es gibt andere Gründe. So steigen mir unter anderem Tränen in die Augen, wenn ich tagtäglich den menschlichen Irrsinn sehe oder von ihm höre. Ich könnte heulen, wenn ich von Geschehnissen höre, die zum Teil schon mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen und mir bewusst wird, dass viele Gräueltaten, die damals geschahen, in gleicher oder leicht abgewandelter Form, heute immer noch geschehen. Ich könnte weinen, wenn ich sehe, wie die Menschen nichts aus Vergangen lernten und häufig geschichtsvergessen leben. Manchmal könnte ich auch wie ein Schlosshund heulen, wenn ich tagtäglich das Unverständnis und die Ignoranz vieler Menschen sehe, die bewusst oder grob fahrlässig andere Menschen, Tiere oder die Umwelt ausbeuten und zugrunde richten.

Aber wer oder was bin ich jetzt? Bin ich ein „crybaby“, eine „Memme“ oder eine „Heulsuse“, nur weil mir Tränen des Unverständnisses in die Augen steigen und ich es nicht schaffe, in allen Situationen einen Panzer um meine Seele zu errichten? Einen Panzer, der mich von meinem Umfeld abschirmt, auf dass mich alle Grausamkeiten und der tagtägliche menschliche Irrsinn, einfach kaltlassen? Soll ich einen Panzer um meine Seele errichten, der mich ignorant, aber glücklich, also ohne Tränen in den Augen, durch die Zeit treiben lässt? Nein, dass kann nicht der richtige Weg sein! Oder besser: „Nein, dass darf nicht der richtige Weg sein!“
Der Grund dafür ist, das leben auch erleben heißt. „Erleben“, was für mich auch das Erleben von Gefühlen ist. Wenn mir jetzt, aufgrund des Irrsinns, den ich tagtäglich sehe, Tränen in die Augen steigen, dann ist es nun einmal so und ich mag mich auch nicht ändern. Die Tränen zeigen nämlich, dass ich ein denkendes und fühlendes Wesen bin, und so lange ich sie nicht instrumentalisiere, sondern sachlich über den Irrsinn, den ich tagtäglich erlebe und sehe, schreibe und rede, ist doch alles gut, oder?
Zumindest könnte man das von einer aufgeklärten Gesellschaft denken, doch leider habe ich den Glauben daran verlorenen, dass wir in einer wirklich aufgeklärten Gesellschaft leben. So kommt es tagtäglich vor, dass in unserer Gesellschaft Tränen als Schwäche gesehen werden und wer schwach ist, der wird getriezt. In unserer Gesellschaft wird erwartet, gefordert und gefördert, meterhohe Schutzwälle um die eigene Seele zu errichten, die jedwede Einflüsse, die störend von außen auf das eigene Leben wirken könnten, abhalten. Unsere Gesellschaft ist so geformt und aufgebaut, dass die, die gefühlskalt und ignorant gegenüber den Auswirkungen ihres Handelns auf andere Menschen und die Umwelt sind, glücklich und zufrieden leben können. Nur wer gefühlskalt gegenüber der Ausbeutung von Menschen, Tieren und der Umwelt für seinen Lebensstil oder Lebensstandard ist, kann wirklich glücklich leben. Der, der wirkliche Empathie für andere Menschen, Tiere und die Umwelt an sich entwickelt, hat verlorenen, denn er hinterfragt sich, sein Leben und die Gesellschaft ständig und sieht tagtäglich nur menschlichen Irrsinn.

Also wer bin ich? Bin ich ein „crybaby“, eine „Memme“ oder eine „Heulsuse“, wie mir schon häufig an den Kopf geworfen wurde? Nein! Ich bin ein empathischer Mensch, der in manchen Situationen nah am Wasser gebaut ist. Ich bin ein Mensch, der viel, vielleicht mehr als andere, von seiner Umwelt mitbekommt und auf seine Seele wirken lässt. Auf die Seele, die auch Schmerz empfinden und einem Tränen in die Augen steigen lassen kann.
Ob das richtig oder falsch ist, dass ich zulasse, dass mich meine Umwelt und die tagtäglichen Erfahrungen im Innersten berühren und mir Tränen in die Augen steigen lassen, mag jeder selbst beurteilen. Doch das ist der Weg, den ich bewusst wählte, um nicht abgeschottet und gefühlskalt durch die Welt zu gehen. Gingen vielleicht mehr Menschen auf diesem Weg und erkennten mehr Menschen den tagtäglichen Irrsinn und täten etwas dagegen, änderte sich vielleicht auch die Welt und es gäbe weniger Situationen, in denen mir Tränen in die Augen stiegen. Vielleicht, aber nur vielleicht, sollten Menschen aufhören, andere Menschen zu stigmatisieren, die ihre Gefühle zeigen und denen auch mal Tränen in die Augen steigen, wenn es denn echte und keine instrumentalisierten Tränen sind. Vielleicht sollten sich mal mehr Menschen fragen, warum anderen Menschen in bestimmten Situationen Tränen in die Augen steigen, anstatt einfach wegzusehen und den eigenen Weg blind weiterzugehen. Vielleicht gelänge es ihnen dann, die Welt mit anderen Augen zu sehen und über sich und ihre Leben zu reflektieren, um die Welt dadurch zu einem besseren Ort für alle zu machen.

Vielleicht, aber nur vielleicht, stiegen dann weniger Menschen Tränen des Unverständnisses in die Augen.

Published inErzählungen

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