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Eine letzte Liebesgeschichte – Brief 7: Lügen

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Liebe Freundin, im Moment geht es mir nicht besonders gut. Mir geht es nicht gut, da mir seit Tagen und Wochen immer deutlicher bewusst wird, dass wir Menschen gerne und ziemlich viel lügen. Wir lügen, sei es, dass wir uns selbst oder andere belügen. Lügen begleiten unsere Leben und ihre Motivation kann in Bereicherung, Besänftigung oder Selbstbetrug liegen. So belügen sich Menschen gerne, um sich selbst Absolution zu erteilen, beispielsweise wenn sie etwas tun, das negative Auswirkungen auf ihre Umwelt hat. Doch nicht nur das, viele Menschen belügen auch gerne andere Menschen, wenn es ihnen materielle oder immateriell Vorteile verspricht, also wenn sie sich durch ihre Lügen, Aufmerksamkeit, Zuneigung oder materielle Vorteile versprechen. Aber diese Arten des Lügens sind den Menschen noch nicht genug und so leben sie zum Teil auch noch verschiedenste Lügen. Viele von uns Menschen leben über Monate und Jahre hinweg Lügen, weil wir häufig uns selbst und ganz selten einmal andere, vor einer unbequemen Wahrheit schützen möchten. Das tun einige von uns Menschen, da sie glauben, dass die Lügen angenehmer als die bittere aber echte Wahrheit sind.
Bei all diesen Lügen spielt häufig die Sprache, also das, was wir Menschen sagen, eine große Rolle. Wir sprechen die Lügen aus und uns ist dabei meist bewusst, wenn wir eine Lüge von uns geben. Vielen der Menschen ist aber das Lügen, da es gesellschaftlich einen faden Beigeschmack hat, unangenehm und so bedienen sie sich noch einer anderen Art des Lügens. Sie bedienen sich der Lüge, bei der man nichts sagt, sondern einfach die Wahrheit vor dem Anderen verschweigt. Diese Art der Lüge kommt dabei besonders gerne in zwischenmenschlichen Beziehungen zum Einsatz. Zumindest gewann ich den Eindruck, als ich eine Frau kennenlernte, mit der ich mich recht gut verstand und wir vereinbarten, miteinander auszugehen. So gingen wir miteinander aus, nur damit ich dann feststellte, dass ich ein „Notnagel“ für sie war, den sie sich in der Hinterhand behielt, obwohl ihr, im Gegensatz zu mir, scheinbar schnell klar war, dass das mit uns nichts wird.
Doch ich springe mal wieder mitten in die Geschichte hinein und sollte vielleicht an ihrem Anfang beginnen.

Besagte Frau lernte ich bei einem gemütlichen Abendessen mit gemeinsamen Freunden kennen. Wir unterhielten uns am besagten Abend gut und viel, so dass wir beim Abschied vereinbarten uns noch einmal, nur zu zweit, zu treffen, um uns gegenseitig besser kennenzulernen. So tauschten wir noch an diesem Abend unsere Mobiltelefonnummern aus, um in Kontakt zu bleiben und das besagte Treffen zu vereinbaren.

Die folgenden Tage nach dem Abendessen schrieben wir uns viele Nachrichten über unsere Mobiltelefone und ich begann mich mehr und mehr auf unser „erstes Date“ zu freuen. Doch je mehr wir schrieben, desto deutlicher beschlich mich ein seltsames Gefühl. Es war ein Gefühl von Vorsicht und als ich seine Ursache versuchte zu erkunden, stellte ich fest, dass es darin begründet lag, dass meine Bekanntschaft einen etwas unstetigen Eindruck auf mich machte.
Als mir dieser Eindruck bewusst wurde und ich nicht sehenden Auges in eine Katastrophe laufen wollte, die darin bestünde, dass ich mich für sie öffnete, nur um meine Gefühle dann verletzt zu sehen, fragte ich sie, ob sie es denn auch so sehe, dass wir uns exklusiv kennenlernten und schauten, ob sich aus unserer Bekanntschaft eine Liebesbeziehung entwickeln könne. Diese Frage bejahte sie, was mich beruhigte und so lernten wir uns sowohl schriftlich als auch später persönlich besser kennen.

Über das Miteinanderschreiben verstrich beinah eine Woche, doch schließlich kam der Tag, an dem wir auf unser erstes gemeinsames Date gingen. Unser erstes Date war dabei ein Spaziergang mit anschließenden Essen in einem schicken Restaurant. Ich muss sagen, dass mir das Date sehr viel Spaß machte und ich mich mehr und mehr für sie zu öffnen und mein Herz für sie zu erwärmen begann. Sie, mit ihrer quirligen Art, schaffte es schnell, den Schutzpanzer, den ich um mein Herz und meine Seele errichtet hatte, einzureisen und Einzug in mein „wirkliches Ich“ zu erlangen.
Da unser erstes Date aus meiner Sicht und scheinbar auch aus ihrer, positiv verlief, beschlossen wir zum Abschied, uns gleich noch einmal am nächsten Tag, für unser zweites Date, zu treffen. Ich freute mich richtig darauf, sie wiederzusehen und etwas mit ihr gemeinsam zu unternehmen. Ich freute mich so sehr darauf, dass ich die Nacht, nach unserem ersten Date, lange im Bett wach lag und einfach nur noch an sie denken konnte. Ich lag wach, dachte an sie und begann ein immer stärkeres Gefühl von Zuneigung für sie, oder war es vielleicht sogar schon das Aufkeimen von Liebe, in mir zu verspüren.

Der nächste Tag und unser zweites Date kam. Diesmal gingen wir ins Kino. Wir gingen in eine Komödie, wobei sie sich an mich lehnte und ich ihr meinen Arm um die Schultern legte. So saßen wir im Kino, schauten den Film und zumindest ich, genoss es, wie wir da in trauter Zweisamkeit saßen. Nachdem der Film geendet hatte, verließen wir das Kino und gingen noch etwas Essen. Wir aßen italienisch, lachten viel und hatten auch wieder eine Mengel Spaß, bevor auch dieses zweite Date zu Ende ging. Zum Abschied fragte ich sie dann, wann wir uns denn wiedersehen wollten, worauf sie meinte, dass sie die nächsten zwei Tage keine Zeit hätte, aber wir danach ja etwas kurzfristig ausmachen könnten. Ich stimmte zu und so endete unser zweites Date, mit einer Umarmung und dem Versprechen zu schreiben und uns bald wiederzusehen.

Die kommenden zwei Tage schrieben wir dann auch noch regelmäßig miteinander, bevor die Kommunikation von ihrer Seite auf einmal weniger und weniger wurde. Ich begann mir Sorgen zu machen und so versuchte ich sie anzurufen. Ich rief sie an, doch sie ging nicht ans Telefon. Durch ihre Nichtannahme meines Anrufes und das Ausbleiben eines Rückrufes durch sie, noch mehr beunruhigt, schrieb ich ihr nachdrücklich die Frage, ob bei ihr alles in Ordnung sei. Auf diese Nachfrage erhielt ich schließlich eine Antwort. Ihre Antwort war sehr kurz und besagte schlicht und einfach, dass bei ihr alles in Ordnung sei.
Ich war irritiert, da ich es nicht gewohnt war, dass sie nur kurze Antworten schrieb, da sie sich sonst eher etwas länger und ausführlicher hielt. Darüber verwundert fragte ich sie, ob denn zwischen uns alles in Ordnung sei und ob sie nicht Lust hätte, sich mal wieder mit mir zu treffen. Ihre Antwort auf diese erneute Frage war, dass zwischen uns alles gut sei, sie aber momentan einfach keine Zeit habe.
Nach diesem kurzen Austausch vergingen die Tage und als ich neun Tage nach unserem zweiten Date fragte, wie es denn ihr ginge, schrieb sie, dass sie jetzt seit einer Woche einen Freund habe und ihr dadurch bewusst geworden sei, dass das mit uns nichts wird.
Durch ihre Aussage und vor allem dadurch, dass sie bereits seit einer Woche wieder einen Freund hatte, ohne irgendetwas zu sagen, fühlte ich mich vor den Kopf gestoßen. Dabei war es weniger die Aussage, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte und mit ihm jetzt zusammen war, die mir vor den Kopf stieß, nein, das war es nicht, denn Liebe kann man nicht erzwingen. Ich fühlte mich hauptsächlich dadurch vor den Kopf gestoßen, dass sie mir nicht gleich gesagt hatte, dass sie den Eindruck hat, dass das mit uns nichts wird, vor allem, nachdem ich explizit gefragt habe, ob wir uns exklusive kennenlernen wollen. Ich hatte das explizit gefragt, da ich keine Lust verspürte, in den Wettstreit mit irgendjemanden um die Liebe einer Person zu gehen. Ich wollte keinen Wettstreit und nicht das Risiko eingehen, mich und meine Gefühle für jemanden zu öffnen, bei dem es sehr wahrscheinlich war, dass er sie nicht erwiderte oder gar verletzte.
Dazu muss ich vielleicht auch sagen, dass es mir im generellen zuwider ist, wenn Menschen mehrere Menschen parallel daten. Ich finde das ungerecht gegenüber den anderen Menschen, die beim Daten versuchen sich wirklich auf einen anderen Menschen einzulassen und ihn kennen- und liebenzulernen. Ist es denn gegenüber einer/einem potentiellen Partner*in nicht ungerecht, wenn man andere neben ihr / ihm datet, da man sich dann nicht wirklich auf sie / ihn einlassen kann? Ist es denn nicht ungerecht, wenn man mehrere potentielle Partner*innen parallel datet und dabei „Checklisten“ im Kopf abarbeitet, sie anhand dieser bewertet und so miteinander direkt vergleicht? Wo bitte ist da noch die Liebe und das sich „Lieben lernen“?
Was mein ehemaliges Date betrifft, so fragte ich sie, warum sie denn nicht ehrlich zu mir gewesen ist und gleich gesagt hat, dass sie lieber einen Anderen als mich kennen und lieben lernen wollte. Vor allem, da ich sie ja gefragt hatte, ob wir uns exklusiv kennenlernen.
Ihre Antwort auf meine Frage war nur, dass sie mich nicht belogen habe und sie mir, als ihr Zweifel kamen, deshalb auch nicht mehr schreiben wollte. Ich war von ihrer Aussage schockiert. Ich war schockiert, dass sie „Ghosting“ als eine ehrliche Art der Kommunikation sah, anstatt zu sagen, wenn etwas nicht passt oder man einfach einen anderen Weg im Leben einschlagen möchte.
Mit dieser letzten, schriftlichen Kommunikation endete unsere Bekanntschaft. Unser Kennenlernen und Schreiben endete und die Art, wie es endete, triggerte etwas in mir.

Nachdem meine Bekanntschaft mit der Frau auf diese Art geendet hatte, war ich deprimiert und sah auf einmal überall nur noch Lügen. Ich sah Lügen in Beziehungen, wo einige der Partner*innen manch einmal keine Liebe mehr verspürten, aber sie sich einreden, dass doch eigentlich noch alles in Ordnung sei. Ich sah, wie sich nicht wenige Menschen in Beziehung etwas vorgaukelten, da sie Angst davor hatten, was folgte, wenn sie sich die Wahrheit eingestünden und dann eventuell allein wären. Angst, vor dem Alleinsein. Angst, keine*n Bessere*n zu finden. Angst, vor dem materiellen Abstieg der eventuell mit dem Ende einer Beziehung einhergeht. Überall sah ich Angst. Angst, die die Menschen dazu brachte sich selbst zu belügen. Doch, nicht nur das. Ich sah plötzlich auch vermehrt „Eltern“, die ihre „unehelichen“ Kinder und mach einmal sogar ihre Lebenspartner belogen, da sie nicht wollten, dass rauskommt, wer der wirkliche Vater ist.
Doch ich sah nicht nur vermehrt die Lügen in den sozialen Beziehungen. Nein! Ich sah und nahm auch vermehrt die Lügen von Populisten war. Die Lügen der Populisten, die Ängste schürten und einfache Lösungen, die nichts als Lügen waren, verbreiteten, um daraus Aufmerksamkeit und Macht zu ziehen. Aufmerksamkeit der geängstigten und belogenen Massen und die Macht sie zu kontrollieren. Ich sah die belogenen Massen, die sich in ihrem Nihilismus suhlten, indem sie sich selbst einredeten, wie schlecht es ihnen doch materiell ginge und dass „die Anderen“ dran Schuld trügen. Ich sah, wie Menschen, denen es eigentlich gut und viel besser als anderen Menschen auf der Welt ging, sich in eine Opferrolle hinein logen. Ich sah, wie sie sich selbst belogen, um sich schlecht zu fühlen, um dadurch zum einen Aufmerksamkeit zu erhalten und zum anderen ihre Unzufriedenheit auf andere projizieren zu können.

Als ich plötzlich all diese Lügen auf unsere Welt sah, die ich es früher schaffte auszublenden, wurde mir angst. Mir wurde angst und bange und ich fragte mich, wie es diese Menschen nur schafften, so viele Lügen zu leben und zum Teil auch noch zu äußern. Ich konnte nicht verstehen, wie das Lügen den Menschen zur zweiten Natur werden konnte, wenn ich mich schon unwohl fühlte, wenn ich nicht direkt log, sondern einfach nicht die Wahrheit aussprach, um beispielsweise den sozialen Frieden mit Freunden zu wahren. Schon in solchen Momenten, in denen ich mich zurücknehme und mir verkneife zu jemanden das zu sagen, was ich wirklich denke, beispielsweise wenn sich ein Freund in seiner Gedankenwelt verrannt hat, kommen wir eine Lüge vor und das schlechte Gewissen plagt mich. Dabei plagt mich das schlechte Gewissen sogar häufig so lange, bis ich die Wahrheit, die ich sehe, eher früher als später, auch wenn dadurch die Bekanntschaft oder Freundschaft leiden sollte, ausspreche.
Na gut, vielleicht habe ich es als einer der wenigen Menschen geschafft, trotz das mir mein Herz auf der Zunge liegt, es noch nicht herunterzuschlucken, zu verdauen, seine Reste dann in die Toilettenschüssel auszuscheiden, nur um es dann in die Kanalisation, in die dunklen Abgründe unserer Zivilisation, hinunterzuspülen. Vielleicht ist das eine meiner großen Schwächen. Die Schwäche, dass ich mich und andere nicht so einfach und so lange belügen kann, ohne mich dabei schlecht und falsch zu fühlen, wie es viele andere scheinbar können. Doch ändern mag ich mich und meine Sicht aufs Lügen nicht, denn dann wäre ich nicht mehr ich und könnte mir selbst nicht mehr in die Augen sehen.

Das einzige, was ich mir vielleicht von der Bekanntschaft mit dieser Frau für mein Leben mitnehmen sollte, ist, dass ich nicht irgendwann den gleichen bequemen Weg gehe. Den Weg, Wahrheit, die ich bereits im Herzen trage, nicht auszusprechen, sondern stattdessen zu schweigen und so stumm zu lügen.

Published inEine letzte Liebesgeschichte

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